TAGES-TIPP VOM 30.10.2000
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29.10.200031.10.2000

Bilanz des Kulturprogramms im Deutschen Pavillon
 

Peter Baumgardt verabschiedete gestern nach der Uraufführung von "Formel Einzz" jeden Mitarbeiter namentlich
© Foto: E. Frommann
Am letzten Freitag zogen die Verantwortlichen des Deutschen Pavillons auf einer Pressekonferenz Bilanz. Diese fiel durchweg positiv aus. Der künstlerische Leiter des Kulturprogramms, Peter Baumgardt, zeigte sich zufrieden mit dem Publikumszuspruch: Das Konzept, vor allem Zeitgenössisches und wenig Gesehenes zu präsentieren, sei aufgegangen, sagte er. Insgesamt 1.453.485 Besucher wurden im Kulturbereich gezählt - das entspricht einer 90 prozentigen Auslastung. Rund 700 Veranstaltungen waren zu sehen. Ziel sei es gewesen,"Deutschland von einer unerwarteten, manchmal selbstironischen, aber immer charmanten Seite zu zeigen", so Geschäftsführer Prof. Claus Groth, und: "Unsere Besucherinnen und Besucher haben uns verstanden."

 

Die Abschiedsrede von "Rosa Eins Doc Siedhoff"
 

© Foto: E. Frommann
Kulturprogramm Deutscher Pavillon
Zum 29. Oktober 2000

Die Lieder sind gesungen, genug der Wörter sind gewechselt, die Linien der Profile sind gefunden, das Licht wird aus dem Haus getragen, der Ton wird abgeräumt, das Gebraus der Menschen dünnt sich aus, die Musik wird nur noch ein einziges Mal herumgetragen, rasch wurde uns noch ein langsames Lied zum Abschied gepfiffen, das Hmtata und der Bassbeat von der Plazabühne wird unseren Gehörgängen fehlen. Jetzt müssen wir aus dem genial vielfältigen Raum ausziehen, sollen nach Hause gehen oder woanders zu neuen Taten aufbrechen. Wir werden uns wieder an die traditionellen Grundnahrungsmittel gewöhnen müssen, denn die Erdnüsse und Pralinen sind alle, der Rotwein ist zur Neige.

...wer mehr will, unten kommen noch mehr dieser traurig-heiteren Worte!

 

... und noch mehr davon...
 

...gestern bei der Verabschiedung...
© Foto: E. Frommann
In 153 Tagen wurden aus Neinsagern Könige der Nächte, wurden aus Zeichenempfängern fleißige Hände mit biegsamem Reaktionsvermögen, Hosts, Hostessen und das Stage Management hielten den Saal gut unter Verschluss, gegen Ende gelang es, dass nicht einmal mehr Besucher verstohlen über die Bühne huschten. Der finstere Abgrund wurde sicher bewacht, die maximale Fallhöhe aller Beteiligten betrug nur zwei Meter, soeben erprobt am viertletzten Tag des Programms.

Der Sommer ist vorbei, im Foyer ist die Zugluft angesagt, die uns im Sommer fehlte und uns in sengenden Stuben fast verglühen ließ. Die Philosophie des Großraumbüros war auf den vermeintlich kleineren Kulturmaßstab eingedampft worden.

Die Regisseurin stand ihren Mann, die Regisseure beteuerten zu Recht, jeden, aber auch den merkwürdigsten Wunsch der Gäste verstanden zu haben. Einer von ihnen glich einem Schüler von John Wayne: Wohl mit Absicht, denn dessen Trefferquote beim Erkennen möglicher Krisenherde lag extrem hoch. Dass Querdenken und Organisationstalent durchaus Zweierlei sein können, bewies jener, der sich im Verlauf der Zeit mit Erfolg auf die erstgenannte Position zurück zog. Die Leiter der Projekte koordinierten auch das Kunst- und Kulturverständnis der Länderbeauftragten: So heterogen die Länderwochen waren, so genau war an der Art ihrer Ambition fast immer abzulesen, welchen Stellenwert die Kultur im eigenen Bundesland genießt.

Starke Partner hatten wir, die uns mit Charme Pontons ins und übers Internet hinaus bauten, die uns fast jeden Morgen aus Bayerns Hauptstadt besser, zuverlässiger und preiswerter mit Gedrucktem versorgten, als es die manchmal allzu geschäftstüchtigen Hannoveraner vermocht hätten. Die EXPO lehrte uns dabei, dass die Bedeutung von Entfernungen zunehmend verblasst, eine Erfahrung, die gewiss auch über Sinn und Nutzen künftiger EXPOs nachdenklich machen wird. Jede individuelle Kultur hingegen wird ausstellenswert bleiben und die Idee einer Weltkulturausstellung wäre eine gewinnende Perspektive.

Nie war Husten oder Heiserkeit anzusagen, keiner war unpässlich oder fehlte gar. Auch die kurzfristigsten Änderungen konnten nicht verhindern, dass kein einziges Druckerzeugnis zu spät kam, auch wenn es erst weit weg einzufangen war. Zu Anfang schaute man am Infocounter bei der allmorgendlichen Frage nach den allabendlichen Programmflyern noch in schreckgeweitete Pupillen charmanter, aber noch ahnungsloser Gesichter, am Ende schallte die Meldung "Programme da!" mit nahezu jener militärischen Präzision, mit der die Foyerbestuhlung nach langwöchigen trilateralen verbalen Gefechten so lange erprobt worden war, bis ein Hauch von Theaterluft über das steinharte Solnhofener Parkett wehen durfte.

Die Bilder der Szene wurden für Draußen wie Drinnen gestylt, nicht nur nüchtern, sondern auch goldglänzend, vortrefflich designt waren auch das Licht und der Ton, aber die Hüter der deutschen Sprache kamen und sahen spätestens nach dem Dinglish der Pre-, Post- oder Main-Show reichlichen Handlungsbedarf und eroberten sich ungebeten eines Wartburgtags das Podium. Wer, der je daran Anteil hatte, hat sie nicht mehr in Erinnerung, die Phase der gefürchteten Jour fixe von 13.00 bis 0.30 Uhr nachts. Es waren so lange Tabakkolloquien, bis einige Damen couragiert den Dunst verbannten. Projekte und Wochen wurden abendfüllend vorgestellt, da wurde so lange aleatorisch debattiert, bis wirklich alles besprochen war, was zu klären anstand.

Seiteneinsteiger wurden ermutigt, bei uns Berufserfahrung zu sammeln, was zu erfinderischen Arbeitsergebnissen führte, bisweilen aber auch zu eigenwilligen Resultaten, da las sich mancher Tagesflyer wie der Ulk eines Kabarettisten. Aber seit heute braucht die Feuerwehr aus den Büros des Piano noblie nicht mehr auszurücken. Seit heute Abend müssen wir auch nicht mehr wissen, wie viele Plätze für die Vorstellung tatsächlich zur Verfügung stehen. Hatten die Medien zu Beginn fast nur Augen für unsere übermächtig scheinende Konkurrenz, gehörte uns - dank vieler Tableaux ecrivants, parlants und vivants vierer Damen - das wohlwollende finale Echo - nach den ersten bösen Hieben Balsam auf die angestrengte Seele aller Engagierten. Mut und erklärter Wille zur Gegenwärtigkeit wurden anerkannt, manch verstaubter Gestaltungswille ging im temperamentvollen Sog des Zeitgenössischen gleichsam reinigend unter.

Mimosen und Exoten des Künstlervolks kamen und gingen, die Zoologie der Verwünschungen, die der Hoteliers und Künstlerbetreuer, von Zicke bis Lackaffe, wird nun verstummen, das Frühstück wird jetzt wieder um 7.30 Uhr serviert werden, die Vertreter und Messehändler haben ihre Stadt wieder - oder hatten sie sie vielleicht nie aus der Hand gegeben, denn allzu leicht rutschte manchem die Verwechslung von EXPO und Messe von der Lippe. Unsere Kultur war Leitung wie Gästen gleichermaßen angenehm wie unbequem, der Intellekt war gefordert, vom Publikum und mit einer gewissen Verzögerung auch von der Presse wurde diese Herausforderung auch angenommen. Die Wirtschaft hatte sich mit großer Ambition und erheblichen Programmanteilen bei uns angemeldet, abgemeldet hat sie ihre BG-Fenster in homöopathischen Dosen, stets zu spät, um sinnvoll planen zu können, aber es gab uns im einen oder anderen Fall die wohltuende Chance, den ersten Durchlauf nicht auf die Premiere oder den einzigen Abend verschieben zu müssen.

Ich habe mir sagen lassen, bis zum 31. November werde auch die letzte Rechnung bezahlt sein. Die Statistik ist erfasst, die Berichte werden einheitlich formuliert, die wallenden Bademäntel, die man auf den Fluren der Administration zu sehen befürchtete, sind wieder eingepackt. Niemand muss mehr mit biblischem Langmut eiligst akkreditiert werden, jetzt müssen nur noch Fahrkarten für die Heimreise gebucht werden.

Aber was wären wir alle gewesen ohne unser Publikum, das immer zahlreicher kam: Es strömte durch unseren kulturellen Durchlauferhitzer, und viele kamen zu unserer Freude so häufig, dass wir Ihnen schon wünschen müssen, Entzugserscheinungen mögen in den kommenden Wochen ausbleiben.

Wenn hier jetzt nicht von Frontberichterstattung die Rede war, nicht von der Beharrlichkeit und selten vor drei Uhr nachts enden wollenden Energie des künstlerischen Leiters und von der niemals enden wollenden Contenance seiner persönlichen Referentin, und von der Omnipräsenz des administrativen Leiters, war das durchaus gewollt, denn deren Ruhm haben ganz zu Recht Außenstehende besungen, das ist allemal besser als das schönste Eigenlob.

Es grüßet und wünscht Euch Glück
Euer Rosa Eins Doc Siedhoff

 

 

 
 
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