Grenzen des Denkens,
der Konventionen
und Gewohnheiten wurden überschritten,
ein aktuelles Deutschlandbild
über das Zeitgenössische vermittelt.
Es war eine Premiere!
Erstmals präsentierte der Deutsche Pavillon auf einer Weltausstellung
ein umfassendes Kunst- und Kulturprogramm. Auf diesem Forum der Welt, der
EXPO 2000 in Hannover, stellte sich Deutschland über seine wirtschaftlichen
und technischen Leistungen hinaus auch mit seiner vielfältigen Kultur
dar. Und das permanent: 153 Tage lang, von morgens bis in die Nacht. Die
ganze Aufmerksamkeit galt einer Kunst, die gegenwärtig entsteht. Das
Bekannte und Vorhersehbare blieb außen vor.
August Everding, bis zu seinem Tod künstlerischer Gesamtleiter
des Deutschen Pavillons, war der Initiator des Kulturprogramms. Ihm ist
es auch zu verdanken, dass wir im Deutschen Pavillon einen Ort schaffen
konnten, der sich von der Hektik unserer Zeit und von der Betriebsamkeit
der EXPO abhob. Im multifunktionalen, intimen ”August Everding Saal” entwickelten
wir ein Programm auf kleinem Raum. Ohne architektonische Barrieren oder
andere Formen von Distanz wurde der direkte Kontakt zwischen Künstlern
und Publikum, wurden neue, vor allem andere als übliche Begegnungen
ermöglicht. Hier wurde Platz geschaffen für Entdeckungen auf
beiden Seiten. Komponisten und Autoren, Regisseure und Choreographen, Bühnen-
und Kostümbildner kreierten Originäres in Zusammenspiel von Sprache,
Musik, Raum und Bild.
Es entstanden Kammermusikwerke, Raumklangprojekte, elektronische Kompositionen,
Klavierlieder, Kammeropern, Theater- und Tanzstücke, Performances,
Texte und Projekte vieler Art sowie Installationen bildender Künstler.
Durch die einzigartige Atmosphäre gelang es, eine andere Welt
zu öffnen, in die wir den Besucher entführten - auf eine
Insel der Stille und Konzentration. Auf dieser regten wir an und auf, bewegten,
unterhielten und rückten für ein besseres Verständnis das
ins Bewusstsein, was nicht den Hör- und Sehgewohnheiten entspricht.
Wir erprobten neue Wahrnehmungsweisen und lenkten den Blick auf Themen,
die uns zukünftig wichtig sein werden. In alles in allem 765 durchgeführten
Veranstaltungen wurden Tradition und Moderne verbunden, stand größtenteils
die Hinwendung zur kommenden Generation im Zentrum, wurde Historisches
reflektiert. Es entstanden 127 Auftragswerke im Kontext zur Tradition,
aufgeführt ebenso wie elf Erstaufführungen im Kontrast zur Konvention.
Und noch eine Premiere: die Länderwochen. Denn zum ersten Mal präsentierten
sich die Bundesländer primär mit einem kulturellen umfangreichen
und vielfältigen, aber individuell gestalteten Tagesprogramm, das
regionale Aspekte innerhalb der Länder betonte, ihre eigene Identität
vermittelte. Die Präsentation von Wirtschaft, Tourismus sowie politische
Statements standen nicht - wie während der Länderwochen vorhergehender
Weltausstellungen üblich - im Vordergrund.
Das Angebot spiegelte das föderative Prinzip der Kulturhoheit der
Bundesländer wider. Dadurch wurde auch der jeweilige Stellenwert der
Kultur des Landes deutlich. Eine enzyklopädische Vollständigkeit
auszubreiten, war nicht beabsichtigt, vielmehr galt es, dem nur kurze Zeit
verweilenden Besucher ein abwechslungsreiches Bild zu vermitteln.
Die Abendprogrammpunkte standen durch ihre Thematik oder durch die Herkunft
der Künstler fast immer in Bezug zu den Ländern. Sie bildeten
mit dem Tagesprogramm eine Einheit.
Die rund 1,5 Millionen Besucher, davon fast 200.000 in den Programmen
unserer zentralen Projekte, Reihen und Festivalwochen, was einer Platzausnutzung
von annähernd 90 % entspricht, fanden ihre individuellen Anstöße:
zum Betrachten und Hinterfragen, Wahrnehmen und Suchen und um darüber
zu sprechen. Das Publikum war neugierig und nicht alt-gierig, enthusiastisch,
kritisch, aufgeschlossen und diskussionsbereit.
Viele neue Namen und junge Gesichter meldeten sich zu Wort, sangen,
spielten, tanzten und setzten sich mit gesellschaftlich wie politisch,
auch rein künstlerisch relevanten Themen auseinander. In Gesprächen
und Podiumsdiskussionen überprüften Künstler und Publizisten
das zum “Klassiker” gewordene auf seine Aktualität und Tragfähigkeit,
hier fand ein Austausch über Erfahrungen statt, wurden Visionen gewagt.
Dem Experimentellen, Unvertrauten und dem Neuen nachzuspüren, die
leisen Töne, nicht das große Event zu suchen, das war das Konzept
des Kulturprogramms Deutscher Pavillon für eine Reise durch Deutschlands
lebendige Kulturlandschaft. Die Repräsentation des Etablierten, Gewohnten
und Prominenten hätte behindert, gar verhindert, Entdeckungen und
Erfahrungen zu machen. Wir weckten das Interesse für das, was heute
Tag für Tag in unserem Land entsteht, im alltäglichen Kulturbetrieb
aber nur punktuell einen Platz findet und so auch nur partiell wahrgenommen
wird.
In unkonventioneller und origineller Darstellungs- und Vermittlungsform
wurde eben jene Kultur dem Besucher näher gebracht, die oft genug
durch den Anschein des Elitären und ihre Spezialisierung unnahbar
und kompliziert wirkt.
Ein Forum der zeitgenössischen Kunst entstand, das deutlich machte:
Deutschland ist kein Museum, sondern eine Werkstatt.
Peter Baumgardt
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